Month: November 2015

Unsere und Wir

Damit es nicht in Vergessenheit gerät. Ein waschechtes Jakob Augstein-Zitat:

Denn die Terroristen sind ja unsere Kinder. Sechs der identifizierten Attentäter von Paris waren Bürger der Europäischen Union, Franzosen oder Belgier. Was haben wir ihnen angetan, dass ihr Hass so groß wurde?

Wenn es ums Lesen geht, bin ich ja eine eher robuste Natur, aber ich kann mich wirklich nicht erinnern, wann mir jemals verlogenere und brechreizerregendere Pronomen untergekommen sind. Auch das bislang neutrale Substantiv Kinder wird man zukünftig dank Augstein kaum noch gebrauchen können.

Er hat offenbar alle Skrupel abgelegt, seine Scheiße den Leuten anzudrehen.

Ein geradezu unendlicher Verkehr

Eins der großen Herbsträtsel ist das Rasen in Kolonnen, welches um sich greift genau dann, wenn die Voraussetzungen dazu eigentlich am schlechtesten sind, d.h. bei dichten Nebel und Nullsicht! Das Kolonnenrasen gilt deshalb als unerklärlicher Furor des Bleifußes, als heimliche Todessüchtelei, die ganz normale Menschen, rational völlig korrekt tickende, verantwortungsvolle Gesellschaftsmitglieder und Gesellschaftsmitgliederinnen erzplötzlich bei miserablen Sichtverhältnissen befällt.

Doch unerklärlich ist der german gangbang – wie das Kolonnenrasen vom Rest der Welt auch genannt wird – keinesfalls. Man muss sich bloß einmal in die Lage versetzen.

In die, eines einsamen Autofahrers. Bei Blindfahrt. Mit höchstens 10 Meter Straßenahnung. Bei Nebel, Nacht und heiliger Scheiße! Auf ’ner Autobahn. Im Kriechtempo. Mutterseelenallein. Der tröstlichen Normalität des Lebens brutal entrissen. In fremden Umständen. Hoffnungslos. Noch unendliche 40 Kilometer bis Zuhause. Nahe an der Nahtoderfahrung. Verzweifelt.

Doch da!

In gefühlten 150 Metern Entfernung gewahrt unser Beispielautofahrer zwei brustwarzengroße Rotlichter mit einem schönen Hof drumherum: die Rücklichter eines Mitmenschen! Genauer gesagt, die Rücklichter von dem Mitmenschen sein Auto! Die Rettung! Das Ende der Odyssee! Die another day!

Ergo drückt unser Beispielautofahrer, den wir nun aus stilistischen Gründen Norbert nennen wollen, aufs Gaspedal und rückt schön nahe zum Vordermann, den wir ebenfalls aus stilistischen sowie aus Verwirrungsvermeidungsgründen Konrad nennen wollen, auf. Soll der doch den schmalen Grat zwischen Mittelstreifen und Nichts ausbaldowern!

Konrads Laune verfinstert sich unterdessen alttestamentarisch. Schon seit Stunden fährt er durch den wabernden Nebel, sieht nichts, hat Hunger, muss Pippi und leidet Durst und dann bedrängt ihn auch noch irgend so ein Arsch von hinten. Konrad, der seinen Blick nur noch schwer vom blendenden Rückspiegel lösen kann, wird klar, welche Rolle ihm nun zugewiesen ist: er soll beim Sterben die Vorhut sein.

Völlig klar, dass Konrad nun seinerseits aufs Gaspedal drückt.

Für Norbert anderseits hat sich die Situation summasummarum auch nicht verbessert – im Gegenteil! Denn nicht nur, dass sein Vordermann (Konrad) einen Fluchtversuch startet und so die rettenden Rücklichter entschwinden – nein! – mittlerweile hat sich auch noch ein anderer Wagen dicht an sein Hinterrad gehängt. Dessen Fahrer scheint mit der konkreten Absicht, sein eigenes Lebensrisiko an andere zu delegieren, Konrad den Vortritt bei der Fahrt ins Verderben aufzwingen zu wollen. Er ist offensichtlch der Auffassung, dass sein verkacktes Leben mehr wert ist als Konrads, was diesen dazu veranlasst gegen diese impertinente Ungerechtigkeit aufzubegehren, indem er seinerseits das Gaspedal bis aufs Bodenblech durchdrückt. Wenn schon sterben, dann wenigstens nicht einem Asi zum Nutzen!

Und so kommt es also, dass man manchmal, in einsamen Herbstnächten, wenn man fröstelnd auf einer Autobahnbrücke steht und an nichts mehr zu denken versucht, im dichtesten Nebel wundersame Kolonnen von bis zu 30 Autos mit 180 km/h unter sich durchbrettern, durchrasen und durchbrausen sieht.

Knausgård lesen oder nicht?

Im Rahmen einer Dinnerpartyzwangskonversation sah ich mich unlängst gezwungen, unauffällig und hurtig das Thema zu wechseln als die Sprache auf Karl Ove Knausgård kam. Soweit ist es also schon gekommen: alle, die des Lesens und des Schreiben kundig sind, kennen anscheinend den zauseligen Reinhold-Messner-Lookalike – nur ich nicht!

Jaaaa, sicher ähm, klar… ein interessantes autobiographisches Projekt, sicher ähm…Prost!… ein ganz enormer Skandinavier ist der Bursche, ähm… zweifelsohne dieser Knausgård ist mir schon einer! Ein Norweger, nicht wahr?…Prost!…übrigens bin ich momentan ganz von Safranskis Goethe-Biographie gefesselt, muss man gelesen haben! blablabla…

Lesen kostet Zeit und im Frühherbst meiner Tage ist die knapp. Abwägen tut da not. Soll ich also Knausgård lesen, um auf der nächsten Party unbeschwert mitplaudern zu können oder gönne ich mir eine kecke, antizyklische Wissenslücke?

Contra: Ich habe eigentlich keinen Bock auf langwierige Exkursionen durch Pyschohausen und Knausgårds Idee einer schonungslosen Selbstentblößung kann einem wie mir, dem das nackte Gesicht des Mitmenschen schon fast zuviel Selbstentblößung ist, auch nicht recht gefallen. Was käme da an reaktionärem Authentizitätsterror auf mich zu? Und schließlich: unterbietet die unbekümmerte Wiedervereinigung von Autor und Erzähler nicht die Reflexionsstandards des coolen Erzählens? Droht mit Knausgård womöglich eine Ära der neuen Ernsthaftigkeit sensu Georg „Intelligenzbolzen“ Dietz? Das wäre fürchterlich! Das sollte man nicht noch mit Lektüre unterstützen!

Pro: Wäre ein raue und schmucklose Selbstentblößungsprosa nicht andererseits ein netter Gegenentwurf zum isotropen Kultur- und Kunstfuzzitum mit seinem feinem Getue? Zu den Lebenslügengespinsten der Spießer und den Selbstverklärungsorgien der Lifestyle-Bacchanten? Das wäre doch wirklich mal zu überpüfen, oder? Und außerdem ist Literatur ja nicht dazu da, unsere vorgefassten Meinungen zu bestätigen, Romane sind kein Convenience-Food, ein guter Leser geht dahin, wo’s weh tut, Erkenntnis macht Aua, etc.

Conclusio: Im Zweifel für den Angeklagten! Ich mach’s, ich les‘ Knausgård.

Doch leider komme ich nur bis zum 4. Satz.

Da muss ich nämlich lesen, da steht ernsthaft, da steht in echt, dass Knausgård das Konzept des „Urlaubs“ nicht versteht. Behauptet er wenigstens. Er kenne das nicht – Urlaub. Er kenne nur weitermachen, weitermachen und weitermachen.

Was soll das? Er kennt das Konzept „Urlaub“ nicht? Häh? Rumhängen, lecker Essen, Frauen hinterhergucken, Gags reißen, Im Wasser plantschen – was gibt es daran nicht zu verstehen? Ist der Mann auf heiliger Mission? Schreibt er Arbeitgeber-Literatur? Will er das Loblied der Manie singen? Er kenne das Konzept „Urlaub“ nicht?

Ich mag das nicht. Okay, es ist nur eine Kleinigkeit, aber manchmal entscheiden eben Kleinigkeiten, wo sich die Wege trennen. Mag Karl Ove Knausgård das Konzept „Urlaub“ nicht verstehen – ich verstehe das Konzept „Karl Ove Knausgård“ nicht.

Außerdem schreibt er ohne Absätze, was auch nicht geht.

 

Politische Metaphysiker

Was derzeit nicht alles auf dem Spiel steht, bzw. was nicht alles (sicher!) dem Untergang geweiht ist:

Die Reinheit des deutschen Blutes, die Rechte der Frau, die Menschlichkeit an sich, die Demokratie, unser Wohlstand, unsere kulturelle Identität, die Jungfernhäutchen deutscher Mädels, das Wirtschaftswachstum, Recht und Ordnung, die öffentliche Sicherheit, die Idee Europas, die Einheit Europas, die Ruhe beim Nachmittagstee, die Ideale der Aufklärung, der Anstand der Massen, die Nationalbrunst, die Prallheit des Portemonnaies, die Moral, das Mitgefühl, das Gute im Menschen, das christliche Abendland, die Barmherzigkeit, der Schuldnarzissmus der Gutmenschen, die Unversehrtheit unserer Vorurteile, der schöne Multikulti-Plüsch, die Welt, die wir kannten und die Selbstverständlichkeit unserer Ansprüche.

Vereint in Hirngespinsten und Alarmismus: rechte und linke Gesinnungsethiker. Alle zornbebend.