Ein geradezu unendlicher Verkehr

Eins der großen Herbsträtsel ist das Rasen in Kolonnen, welches um sich greift genau dann, wenn die Voraussetzungen dazu eigentlich am schlechtesten sind, d.h. bei dichten Nebel und Nullsicht! Das Kolonnenrasen gilt deshalb als unerklärlicher Furor des Bleifußes, als heimliche Todessüchtelei, die ganz normale Menschen, rational völlig korrekt tickende, verantwortungsvolle Gesellschaftsmitglieder und Gesellschaftsmitgliederinnen erzplötzlich bei miserablen Sichtverhältnissen befällt.

Doch unerklärlich ist der german gangbang – wie das Kolonnenrasen vom Rest der Welt auch genannt wird – keinesfalls. Man muss sich bloß einmal in die Lage versetzen.

In die, eines einsamen Autofahrers. Bei Blindfahrt. Mit höchstens 10 Meter Straßenahnung. Bei Nebel, Nacht und heiliger Scheiße! Auf ’ner Autobahn. Im Kriechtempo. Mutterseelenallein. Der tröstlichen Normalität des Lebens brutal entrissen. In fremden Umständen. Hoffnungslos. Noch unendliche 40 Kilometer bis Zuhause. Nahe an der Nahtoderfahrung. Verzweifelt.

Doch da!

In gefühlten 150 Metern Entfernung gewahrt unser Beispielautofahrer zwei brustwarzengroße Rotlichter mit einem schönen Hof drumherum: die Rücklichter eines Mitmenschen! Genauer gesagt, die Rücklichter von dem Mitmenschen sein Auto! Die Rettung! Das Ende der Odyssee! Die another day!

Ergo drückt unser Beispielautofahrer, den wir nun aus stilistischen Gründen Norbert nennen wollen, aufs Gaspedal und rückt schön nahe zum Vordermann, den wir ebenfalls aus stilistischen sowie aus Verwirrungsvermeidungsgründen Konrad nennen wollen, auf. Soll der doch den schmalen Grat zwischen Mittelstreifen und Nichts ausbaldowern!

Konrads Laune verfinstert sich unterdessen alttestamentarisch. Schon seit Stunden fährt er durch den wabernden Nebel, sieht nichts, hat Hunger, muss Pippi und leidet Durst und dann bedrängt ihn auch noch irgend so ein Arsch von hinten. Konrad, der seinen Blick nur noch schwer vom blendenden Rückspiegel lösen kann, wird klar, welche Rolle ihm nun zugewiesen ist: er soll beim Sterben die Vorhut sein.

Völlig klar, dass Konrad nun seinerseits aufs Gaspedal drückt.

Für Norbert anderseits hat sich die Situation summasummarum auch nicht verbessert – im Gegenteil! Denn nicht nur, dass sein Vordermann (Konrad) einen Fluchtversuch startet und so die rettenden Rücklichter entschwinden – nein! – mittlerweile hat sich auch noch ein anderer Wagen dicht an sein Hinterrad gehängt. Dessen Fahrer scheint mit der konkreten Absicht, sein eigenes Lebensrisiko an andere zu delegieren, Konrad den Vortritt bei der Fahrt ins Verderben aufzwingen zu wollen. Er ist offensichtlch der Auffassung, dass sein verkacktes Leben mehr wert ist als Konrads, was diesen dazu veranlasst gegen diese impertinente Ungerechtigkeit aufzubegehren, indem er seinerseits das Gaspedal bis aufs Bodenblech durchdrückt. Wenn schon sterben, dann wenigstens nicht einem Asi zum Nutzen!

Und so kommt es also, dass man manchmal, in einsamen Herbstnächten, wenn man fröstelnd auf einer Autobahnbrücke steht und an nichts mehr zu denken versucht, im dichtesten Nebel wundersame Kolonnen von bis zu 30 Autos mit 180 km/h unter sich durchbrettern, durchrasen und durchbrausen sieht.

3 comments on “Ein geradezu unendlicher Verkehr

  1. Emmanuelle 7. Dezember 2015 19:39

    Ich liebe diesen Beitrag. Ich möchte mit jedem seiner Sätze ein Fistanöllchen beginnen.

    • Tomsten 7. Dezember 2015 19:50

      Jetzt lieb ich ihn auch … danke für’s erinnern, dass es dieses „Kleinortkleinod“ auch noch gibt … stell mir grad die 30-Autoschlange im Höllentempo vor *g*

  2. Halbmast 12. Dezember 2015 20:13

    Danke für das Lieben des Beitrags, ihr Lieben!

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