Author: Halbmast

Super 8

Als ich ein Kind war, schnappte ich eine Idee auf, die mir sofort unabweisbar evident erschien. Es war die Vorstellung, dass im Augenblick des Todes das ganze rappelvolle Leben vor unserem inneren Auge defiliert. Irgendwo, von irgendwem hatte ich das gehört und ich zweifelte kein bisschen, dass dies wahr wäre. Aus irgendeinem Raunen machte ich eine naive Gewissheit und aus dieser Gewissheit machte ich schließlich ein merkwürdiges, kindliches Ritual.

Damals war die Zeit der Super 8-Filme. Man saß abends mit Knabberzeug im Wohnzimmer und die ganze Familie sah sich die Aufnahmen vom letzten Urlaub an. Da war immer dieser Moment, wenn das Licht auf der Leinwand zu knistern begann und da waren immer diese flimmernden Flusen in den überblauen Himmeln und alle sprachen immer in die Kamera, obwohl es keinen Ton gab.

Und genauso stellte ich mir das letzte Defilee vor, meine kleine Sterbebett-Gala: wie einen inneren Super 8-Film, der außerhalb der Zeit läuft. Diese Idee wurde für Jahre ein fester Bestandteil meiner Gedanken und es schien mir, als hütete ich einen geheimen Schatz, von dem ich niemanden etwas sagen konnte. Ich war mir sicher, dass ich bei allem was ich tat und erlebte, beobachtet würde – von einem zukünftigen Selbst. Irgendwann kam ich auf die Idee, mir Grüße zu schicken. Ich dachte mir, der sterbende, alte Mann würde sich gewiss darüber freuen, dass jemand an ihn denkt. Immer, wenn ich von der Schule kam, stellte ich mich also kurz vor den Kleiderspiegel im Flur, zog Grimassen (den Vierfinger-Chinesen meistens) und winkte hinein: Na, erinnerst du dich an diesen Augenblick?

Einige Zeit später, entdeckte ich in meiner Idee einen „Denkfehler“. Wenn du stirbst, stirbt doch auch dein Gehirn und alle Erinnerungen sind doch in deinem Gehirn! Daraus zog ich tollkühn den Schluss, dass unsere Erinnerungen wahrscheinlich gar nicht in unserem Gehirn gespeichert würden, sondern in der Welt selber! Wie ich darauf kam, weiß ich heute nicht mehr und wie das funktionieren sollte auch nicht – es waren sehr, sehr komplizierte Gedanken, auf denen ich da als Kind schlitterte – aber im Ergebniss bedeutete es damals für mich, dass ich nicht mehr daran glaubte, dass der „letzte Film“ aus der 1.Person-Perspektive abgedreht würde.

Ich erinnere mich noch gut an eine Szene, in der mich das „Grossmann-Schwein“ stellte. Unterstufen- und Mittelstufenschülern war es damals streng untersagt, in den Pausen das Schulgelände zu verlassen. Aber natürlich taten wir es trotzdem, denn unweit lockte ein Supermarkt, in dem es gekühlte Erfrischungsgetränke zu kaufen gab. Also exakt den Stoff gab es dort, den wir in den Pausen so dringend brauchten. Das „Grossmann-Schwein“ war ein Sadist im Staatdienst, ein fetter Wichser, dessen pädagogisches Konzept sich darf beschränkte, 10-Jährigen Angst zu machen. Er pflegte sich zu den Schülern hinabzubeugen und ihnen aus 2 Zentimetern Entfernung ins Gesicht zu brüllen. Das war seine Lieblingsnummer. In den Pausen patrollierte er regelmäßig vor besagtem Supermarkt, aber weil der dumm war, war es leicht ihm zu entgehen. Eines Tages hatte ich keine Lust mehr, vor ihm zu fliehen. Er stand vor der Eingangstür und hatte mich schon im Visier. Ich zahlte meine Cola und schlenderte dann gelassen ihm entgegen. Bevor er losbrüllen konnte, nannte ich ihm meinen Namen und den meines Klassenlehrer und ließ ihn stehen. Schade, dass er hat keinen Apoplex bekommen hat, aber er stand ganz, ganz kurz davor. Er drehte völlig durch und als er feststellte, dass ich ihn nur ruhig beobachtete, drehte er noch mehr durch. Was mich wiederum amüsierte. Ich war selber überrascht, wie kalt mich dieser Wichser ließ, es war eine unglaubliche Entdeckung zu sehen, wie wenig dieser so gefürchtete Mann mich affizierte! Und der Grund dafür war, dass ich im „Film“ war. Während das „Grossman-Schwein“ wie irrsinnig tobte und tobte, war ich im Film. Dies ist eine Szene, die ich noch einmal erleben werde! Ich stand ganz ruhig da und ich hielt meine Arme hinter meinem Rücken verschränkt und winkte mir zu.

Es gibt Irrtümer, fixe Ideen und man kann nicht sagen, dass sie alle nutzlos sind, gleich wie kindisch sie anmuten

Hypersoziales Gezücht

Liebe Facebook-Freunde,

seid froh, dass ich kein Erdogan bin! Als verantwortlicher Alleinherrscher dieses Landes würde ich gewiss nicht nur Twitter, sondern auch noch andere Quellen unablässlichen Dünnpfiffs versiegeln. Beispielsweise die Apotheken-Rundschau und eben auch Facebook. Wie hirnamputiert muss man eigentlich sein, wie krank und fehlgeleitet, die wertvollste Ressource, die dem Menschen zur Verfügung steht, freiwillig zu vernichten? Die Einsamkeit! Was, wenn nicht widerwärtigste Hirn-Akne, könnte einen veranlassen, jedes erdenkliche Nichts mit allen erdenklichen Niemanden zu teilen? Muss der Mensch sozial sein bis zum Erbrechen? Wollt ihr die totale Kommunikation, wollt ihr die Plapper-Apokalypse, ihr schwachköpfigen, spießigen Ringelpiez-Taliban?

Seid froh, dass ich nicht euer Bestimmer bin, ihr Infantilen! Ich verordnete euch die Ressurektion euer selbst, schüfe asoziale Medien, führte Schweige-Parks ein, lautlose Büros und Wirklichkeit! Und verböte Smilies und Selfies.

Battersea Power Station

Gestern bin ich mit dem Zug von Wimbledon nach Waterloo gefahren. Ich war trostlos müde, die Leute im Abteil waren alle mit ihren Smartphones beschäftigt, die Luft war stickig, draußen zogen Vorstädte vorbei, über denen ein unentschlossener Regenhimmel hing. In Earlsfield setzte sich mir ein Mann aus einem anderen Jahrhundert gegenüber, ausgestattet mit Melone, Schirm, grauem Gehrock und einer steifen Oberlippe. Er nickte mir kurz zu, schlug die Beine übereinander und kramte erfreulicherweise kein Smartphone aus seinem Aktenkoffer. Wir beschlossen beide, fortan aus dem Fenster zu schauen. Ich war froh, dass es einen wie ihn noch gab, einen, der aus dem Fenster schaut. Er sollte der Vorbote des Surrealen sein.

Denn dann kam die Epiphanie! Aus dem Zugfenster sah ich plötzlich das Cover von Pink Floyd. Das von der Animals. Das Cover in echt! Ich sah es! Nur das fliegende Schwein, das sah ich nicht. Man kann nicht alles haben.

Natürlich habe ich immer schon gewusst, dass es die Battersea Power Station wirklich gibt, wer weiß das nicht. Aber mir war nicht klar, nicht im Entferntesten, wie wirklich wirklich sie ist. Wie da sie da ist. Sie ist so, wie soll ich sagen…
Wenn ich nicht schon vorher geschwiegen hätte, dann hätte ich in diesem Augenblich angefangen zu scheigen. So ist sie. Existent und verlassen. Als hätte auch sie sich im Jahrhundert geirrt.
Die Battersea Power Station. Und unglaublich: über ihr posierte der Regenhimmel exakt genauso unheilvoll und bedrohlich wie damals auf dem Pink Floyd Cover. Beinahe hätte ich den Mann mit der Melone gefragt, ob ihm eigentlich die Tragweite des Anblicks klar wäre. Aber ich habe es nicht getan.
BatterseaPowerPig

Vormittag

7:02 Uhr….Synchronöffnen des linken und rechten Auges.
7:03 Uhr….Sorgfältige Beobachtung der Zimmerdecke.
7:05 Uhr….GPS-freie Ortung des Geschlechtsteils.
7:05 Uhr….Erster Geistesblitz. (4 Picovolt)
7:16 Uhr….Verfügung in die Vertikale mittels purer Willenskraft.
7:18 Uhr….Auf-, bzw. Heimsuchung der Toilette.
7:19 Uhr….Zahnputz
7:20 Uhr….Zweiter Geistesblitz (4,4 Picovolt)
7:36 Uhr….Versieglung eines Vortagsbrötchens mit Margarine.
7:47 Uhr….Weltlage halbleise beklagt
7:50 Uhr….Fernbedienung in Sofaritze entdeckt.
7:58 Uhr….Universale Ungleichung definiert: Lambda ≠{ {8\pi G} \over {3c^2} } \rho
8:03 Uhr….Durchgeatmet.
8:19 Uhr….Die bisherigen Ereignisse Revue passieren gelassen.
8:52 Uhr….Konzentriertes Entspannungsdösen.
10:05 Uhr…Erneutes Magenknurren.
10:12 Uhr…Zum Kühlschrank gehetzt.
12.00 Uhr…Telefon klingeln gelassen.
12:01 Uhr…Vormittag abgehakt.

Man sieht: mit einem guten Zeitmanagement ist auch ein dicht gestaffeltes Tagesprogramm zu bewältigen!

Rechtswirksamer Standesdünkel

Immer öfter ist von Lebensleistung die Rede und zwar dann, wenn irgendwelche Privilegien begründet oder wenn Milde im öffentlichen oder richterlichen Urteil gegenüber Bessergestellten gefordert wird. Alle Menschen sind natürlich quasi gleich, aber nicht jeder kann eine inkommensurable Größe wie Lebensleistung zu seinen Gunsten beanspruchen (wie zuletzt  Hoeneß, Uli und Schavan, Annette ). Wo kämen wir hin, wenn jeder x-beliebige Verbrecher sich darauf beriefe, dass er, abgesehen von dem, was er verbrochen hat, nichts verbrochen hat und er deshalb – über den Daumen gegepeilt und lebensleistungsmäßig -, als Ehrenmensch zu betrachten sei!

Man täusche sich nicht: der Salomismus, die menschelnde Berücksichtigung lebensgeschichtlicher Verdienste, ist weder mild noch weise, sondern lediglich eine Form des Mia san Mia. Erstaunlich, wie wenig beanstandet die Vermessenheit des Begriffs Lebensleistung bleibt.

Arbeitsethos und lockere Sitten

Einmal – im Jahre 1861 – war es schwül und der Mond hing schwer wie ein Kürbis in der Pariser Nachtluft.  Da unterbreitete die Schauspielerin Suzanne Lagier dem älteren der Goncourt-Brüdern aus purer Langeweile ein konkretes Fickangebot. Edmond lehnte dies  mit der Begründung ab, er sei Schriftsteller und dürfe deshalb seinen Beobachtungsposten nicht aufgeben, sich nicht in Leidenschaften verstricken etc. Vielen Dank also für das Angebot, aber nein, geht nicht.

Die Lagier trieb es darauf noch in der gleichen Nacht mit Turgenjew, der zwar auch Schriftsteller war, Goncourts Bedenken aber nicht teilte.