Sozialtourismus

Ein Zimmer mit vollsynthetischer Luft und indirekter Beleuchtung. Ich bin erledigt, der Tag war lang. Ich liege im Bett, im Flimmerkasten läuft RTL, was hingenommen werden muss, was unabänderlich ist, denn die Fernbedienung ist aus der Hand gefallen mir. Sie liegt auf dem Fußboden wie für immer, auf dem Fußboden des Hotelzimmers, das im Hotel ist, das in der Stadt ist, die der Ort ist, der der einsamste Ort auf der ganzen Welt ist. Ein Ort in einer Stadt, einer Stadt, der alle Lehrbücher der Proktologie ein eigenes Kapitel widmen. Und da bin ich jetzt.

Weint um mich, ich bin in Bielefeld. Die Zeit vergeht. Es ist ein Akt der Willensstärke, ich verlagere mich mühsam zur Seite und greife zur Fernbedienung. Ich drücke auf irgendeinen Knopf: die Nachrichten!

Heute ist wieder etwas ziemlich Beknacktes passiert. Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat – in Ermangelung sinnvoller Beschäftigung – das sogenannte Unwort des Jahres bekannt gegeben. Die wohldurchdachte Wahl fiel auf „Sozialtourismus“.

Weil, weil, ja warum eigentlich? Weil der Begriff „Sozialtourismus“ all die Menschen diskriminiere, „die aus purer Not in Deutschland eine bessere Zukunft suchen“ und weil er „ihr prinzipielles Recht hierzu“ verschleiere. Und weil böse Wörter, böse, sprachmagische Wirkungen haben. Und weil der Mob ein falsches Bewusstsein hat und die Stirnrunzler von der  GfdS neuerdings im Besitz politischer, juristischer, soziologischer, ökonomischer und vor allem moralischer Allwissenheit zu sein scheinen und den sprachlichen Objektbereich voll erfasst haben und deswegen entscheiden, was adäquat ist und was nicht.

Ideologiekritik ist ne feine Sache für feine Leute, aber wenn sie sich als Sprachpflege ausgibt, ist sie selber Verschleierung. Wer Verhältnisse ändern will, muss halt Verhältnisse ändern und nicht Sprache. Woher stammt eigentlich der verquere Idealismus, die dämliche Vorstellung, Sprache konstituiere Bewusstsein?

Ein stinkender Sockenball verfehlt den Fernseher. Ich habe Durst, ein Schwerverbrechen für eine Pulle Quelle Surprise jetzt! Stattdessen schlafe ich ein.

Ein Wort noch zu Bielefeld. Es gibt fließend Wasser hier und Strom und Internet. Es ist nicht bewiesen, dass die Einwohner alle Zombies sind. Bielefeld trifft keine Schuld, wenn ich müde bin und die Fernbedienung aus der Hand fällt mir und mein Sockenball den Nachrichtensprecher nicht trifft.

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