Month: November 2013

Spaßbad (Zandvoort)

Ich bin 52 Jahre alt. Ich habe meinen biologischen Reproduktionsauftrag erfüllt, den Heimatplaneten bereist, die Klassiker gelesen, der Prosa der Verhältnisse getrotzt, den Reichtum und die Armseligkeit des Lebens gekostet, ich habe Menschen sterben und Babys in die Welt flutschen gesehen.

Ich sollte eigentlich erwachsen sein.

Doch jetzt stehe ich in einem holländischen Freizeit- und Spaßbad auf dem 5-Meter-Turm und frage mich. Ich frage mich, was – zum Teufel! – ich hier oben eigentlich mache.

Es schwindelt mir. Etwas Ungutes zirkuliert in meinen Adern, meine Eingeweide tremolieren. Nackichte Angst steigt auf. Vor 40 Jahren stand ich in Kreuzau auf dem 10-Meter-Turm, schlimm war das damals, doch diesmal ist es viel schlimmer. Was also habe ich hier zu suchen?

Muss etwas bewiesen werden? Muss etwas überwunden werden? Treibt mich Langeweile? Oder Ruhmsucht?

Es ist  ein Alptraum. Mittlerweile wird die Schlange der Kinder hinter mir unruhig. Der Bademeister ist auf mich aufmerksam geworden. Lasst mich in Ruhe! Ich muss nachdenken!

Wie war das noch? Die Angst ist nur Angst, mehr nicht. Ah, die Angst ist nur ein Ding in meiner Welt. Eines von vielen. Die Kinder gucken mich an, dem Bademeister steht nun der Mund offen. Es sind nur 5 Meter. 5 Meter Luft in einem holländischen Spaßbad – wozu sind sie gut? Ich muss nachdenken!

Andererseits ist die Kante eines Sprungturms kein guter Platz zum Nachdenken…

Ich springe und sofort ist die Angst weg. Ich springe und eine herrliche Leere erfüllt mich. Ich bin nur ein fallendes Ding in meiner Welt. Eines von vielen.

Als ich aus dem kühlen, blubbernden Wasser aufsteige, muss ich mir ein Grinsen verkneifen. Ich überlege, ob ich mir die Gaudi noch einmal gönnen sollte. Noch mal eine Dosis Leere?

Kaum zu glauben!

Auxerrois

Sie graben Gräben ins Flachland, schütten Erde ins Meer, sie züchten Blumen mit unnützen Farben, sie lassen Milch schlecht werden, sie verlieren ungerne Fußballspiele und jetzt produzieren sie auch noch Wein! Ich habe mir vorletzte Woche gleich mehrere Gläser vom Auxerrois (s.o) genehmigt und dann frohgemut ein Räuschlein begrüßt. Bravo! Fruchtig und mineralisch und so. Gar nicht mal so schlecht!

Miles and More 2 (Kufstein)

Tagsüber sind die Berge ganz okay.
Aber nachts sind sie sehr dunkel.
Und sie fangen an zu Grummeln.
Sie Grummels böse vor sich hin.
Natürlich nicht akkustisch.
Aber man spürt nachts genau:
Wenn sie Grummeln könnten, dann täten sie es auch.
Der Berg hat das Potenzial zum Grummeln.

Im Gegensatz zu einem Strand etwa.
Wenn ein Strand Grummeln könnte, dann täte er es nicht!
Ganz einfach, weil er ein freundliches Naturell hat.
Ein Strand tät Schlürfen und Schmatzen.

Die Berge aber haben kein freundliches Naturell.
Zumindest nachts nicht.
Tagsüber vielleicht, aber nachts definitiv nicht.
Dann sind sie wie verwandelt.

Man fragt sich schon, warum die Berge so maligne sind.
Warum so dunkel?
Warum sie Wegbereiter der Abgründe sind?

Ich vermute, wegen der vielen geheimen Nazi-Bunker.
Der ganze Schrattenkalk ist von geheimen Nazi-Bunkern durchsiebt.
Garantiert.
Man darf es freilich nicht laut sagen hier, die Hoteliers hören es nicht gerne.
Dann bleibt der Tourist weg, sagen sie.

Aber insgeheim wissen auch sie, dass es kein gutes Ende nehmen wird hier.
Dafür sorgen schon die Berge.
Immer und immer sorgen sie dafür.
Dass es kein gutes Ende nehmen wird.
Hier nachts.

Miles and More 1 (Saint-Remy-de-Provence)

Der Himmel ist schockierend blau, die Sonne scheint. Ein unüberschaubar großer Garten mit Zypressen, Platanen, provencalischem Gesträuch und botanischem Kitsch. Vögel zwitschern, irgendwo müssen Teiche sein, man hört Frösch quacken. Ein ganz leichtes Lüftchen weht. Der Windhauch ist ein Liebesakt.

Im abgelegeneren Teil des Gartens habe ich einen Flegelsessel gefunden. Dort sitze ich jetzt und lese antike Horrorliteratur:

„Λοπαδοτεμαχοσελαχογαλεοκρανιολειψανοδριμυποτριμματ ο-
σιλφιολιπαρομελιτοκατακεχυμενοκιχλεπικοσσυφοφαττοπ εριστερα-
λεκτρυονοπτοπιφαλλιδοκιγκλοπελειολαγωοσιραιοβαφητρ αγανοπτερυγών“

Grundgütiger!

Die Frösche quaken mittlerweile dermaßen laut, dass man sich kaum noch konzentrieren kann. Warum der Lärm? Es ist absurd, es könnte Frieden herrschen. Ich komm gleich rüber, ihr Grünglitschigen!

Ich trinke eine Citronade á la menthe. Ich frage mich, ob ich mein Leben ändern muss und im Augenblick würde ich sagen: ja, aber nur ein bisschen. Also weiter im Text.

„Austernschneckenlachsmuränen-Essighonigrahmgekröse-Butterdrosselnhasenbraten-Hahnenkammfasanenkälber-Hirnfeldtaubensiruphering-Lerchentrüffelgefüllte Schüssel “

Aha. Ein Hotelangestellter kommt vorbei, ich grüße ihn und lese weiter, trinke meine Citronade, lese wieder, betrachte das Wiegen der Zypressen und mag den Sex, den der Wind mit allem und jedem und mir hat.

Mir fällt auf, dass sich die Szene wiederholt. Der Hotelangestellte kommt alle 15 Minuten an meinem Flegelsessel vorbei, wir grüßen uns mit einem Lächeln, dass immer gezwungener wird – soll das ewig so weitergehen?

Jetzt verstehe ich, er geht rüber zum Pool. Als er zum viertenmal passiert, frage ich ihn, ob er nachschaut, ob im Pool Leichen auf dem Wasser treiben.

Pardon, monsieur?

Man muss wissen: in diesem Hotel sind in dieser Jahreszeit hauptsächlich gutbetuchte Pensionäre abgestiegen, Typen die in weinroten Lacoste-Polos und hellen Chinos rumlaufen. In ihrer Begleitung normalerweise gepflegte Mumien oder Damen, die definitiv zu jung für sie sind.

Da wäre es doch nicht erstaunlich, wenn einer mal tot im Pool triebe, erkläre ich dem Hotelmann. Er schaut mich völlig konsterniert an, ringt sich schließlich ein gequältes Lächeln ab.

Ah, ein Scherz von Monsieur!

Ja, ein Scherz. Ich hatte es gut gemeint, wollte die Situation ein bisschen auflockern – und habe alles schlimmer gemacht. Wir lächeln uns an wie auf diplomatischen Parkett, das hat man von Freundlichkeit.

Ich gehe rüber zur Hotelbar. Aristophanes ist langweilig, die Cirtonade ist alle, ich hab’s vermasselt, Zeit für einen gutgekühlten Rosé.