Allgemein

Das Brot ohne Eigenschaften

Zwei freundliche Hotelgäste – sie geben sich als schwedische Geschäftsmänner zu erkennen – setzten sich zu mir an den Frühstückstisch. Als mein Blick auf ihren Teller fällt, wünschte ich, ich wäre ein besserer Kontingenzbewältiger. Da ist etwas, für das es keine vernünftige Erklärung gibt, etwas, wofür ich frühmorgens nicht gerüstet bin. Da sind je zwei Scheiben Graubrot auf ihrem Teller. Mit feuchter Salami und Margarine.

Salami und Margarine ließen sich ja noch als bloße Geschmacklosigkeit auffassen, das Graubrot aber ist eine Kriegserklärung an die Lebensfreude, eine Dingwerdung des Nihilismus.

Um es klar zu sagen: das Buffet liefert keinerlei Entschuldigung dafür, das biegt sich unter der Last lecker Gaben! Da gibt es Käse bis zum Abwinken, Honig, Konfitüren, gekochten Schinken, Parmaschinken, Mortadella, Chorizo, luftgetrocknete Walnussalami, Spiegeleier und Speck, Joghurts und sogar Müsli. Und vor allem gibt es da richtiges Brot, kräftiges, knuspriges, duftendendes Brot, Schwarzbrot und Baguette und Brötchen und Mehrkornbrötchen gibt es da. Alles, was das Herz begehrt.

Und was machen diese schwedischen Honks? Wie vom bösen Demiurgen ferngesteuert greifen sie zum Graubrot, zu spotten und zu verhöhnen des Lebens pralle Vielfalt. Was übler ist am Graubrot, weiß ich nicht: sein trister, final-entropischer Teig oder der industriell, makellose Schnitt seiner Scheiben.

Brot gehört gebrochen oder krumm und schief geschnitten, aber sicher nicht in gelaserten Portionen dargereicht! Einen Augenblick überlege ich, das Thema anzusprechen – auch die Sache mit der feuchten Salami -, dann fällt mir ein, dass die beiden freundlichen Herren aus einem Land kommen, wo man ohne Wimpernzuck fermentierten Hering verzehrt.

Als ich mich vom Frühstückstisch verabschiede, nehme ich mir fest vor, die Kunst der negativen Aufmerksamkeit besser zu lernen.

Bachforellen

Wir sind zu einem meiner Kindheitsorte gefahren, was wir immer öfter tun in letzter Zeit, was hoffentlich nichts Schlimmes zu bedeuten hat, wer weiß es.

Da, wo der Bach in den Fluß mündet, steht immer noch die Papierfabrik, ein finsteres, verlorenes Backsteingebäude, dass das Tal dahinter vor neugierigen Städtern schützt. Hier stockt der gemeine Wandersmann, das sieht gar nicht einladend aus hier, hier dreht er ab.

Doch das Tal, dass der Bach durchschlängelt, wird schöner und schöner mit jedem Schritt, dem man seinem Lauf folgt. Schließlich säumen anmutige Morgen Blumenwiese den Weg. Dort haben wir immer gepicknickt. Mein Lieblingsonkel, der sich mit dem Rücken auf die Decke fallen ließ und immer sagte: Ich plädiere auf Freispruch! Die Fresskörbe, die wir Kinder systematisch leermampften. Die tausend Wettkämpfe, die meine Cousins und ich uns einfallen ließen. Und der Bach.

Es ist leicht die Stelle zu finden, wo wir die Staudämme bauten. Wir standen Stunden im Wasser, bis unsere Füße blau waren. Unter allen Steinen, die wir umdrehten, war irgendein Tiergedöns. Wasserspinnen, Regenwürmer, Käfer merkwürdigster Art, flüchtender Glibber. Ich erkenne die Silberweiden und Eschen wieder, ihr urzeitliches Wurzelwerk. Verstecke für Viehcher, die man nie richtig zu sehen bekam.

Nun, 40 Jahre später, ächzt Josephine unter der Fron des Baches. Sie schleppt unermüdlich Steine herbei und wirft sie ins Wasser. Wir müssen aufpassen, dass unser Staudamm nicht das Ufer überschwemmt, sagt sie. Die Gefahr ist nicht zu unterschätzen, stimme ich ihr zu.

Ein zeitlang stehe ich ganz still. Damals waren hier Forellen, aber jetzt kann ich keine sehen. Aber ich weiß, dass sie in der Nähe sind. Sie stehen irgendwo in der Strömung und warten bis wir wieder verschwunden sind.

SMS

15-jähriger Sohn:  Ham wir irgendwo Kabelbinder im Haus?

Halbmast:  Kabelbinder? Brauchst du zufällig auch noch einen Knebel?

15-jähriger Sohn:  Wenn du mir gleich mit dem Maibaum hilfst, lache ich auch über deine famosen Witze!

Halbmast:  Deal!

Jugendsünde

Ein Taunus GXL ist kein Wagen für den irgendwelche Regeln gelten, schon gar nicht für einen knallgrünen. Das Ding steht im Parkverbot, weil es da hingehört , und wird mit seinem Insassen von Jonny Guitar Watson durchgeschüttelt. Qualm steigt aus den Seitenfenstern.

Dadada da da daaah da.
Dadada da da dapp!

Rene Pingen kommt quer über den Ring gelaufen, reißt die Autotür auf, plumst in den Sitz, knallt die Autotür zu. Hängt sich mit beiden Händen an den Lenker.

Oh, it’s a real motha for yaaa…

Stellt den Kassettenspieler aus. Marcel, der auf dem Beifahrersitz sitzt, verzichtet auf Protest. Wenn sein Bruder schlechte Laune hat – und die hat er gerade! -, dann sind Provokationen wenig ratsam. Marcel hat da so seine Erfahrungen gemacht in den letzten drei Jahrzehnten.

„2000! Für so’nen Job! 2000! Der will mich verarschen! Krrwh.“ Mit schönem Gruß vom Nasengetriebe. Verächtlicher schnarzten Polypen nie.
„2000?“ fragt Marcel und zündet sich eine Eckstein an.
„Hörst du schwer, oder was?“
„2ooo? Für was für’n Job denn, Rene?“

Aber Rene starrt nur aus der Frontscheibe. Guckt als hätte er den Glauben an die Menschheit verloren.

„In was für einer Welt leben wir eigentlich? In waahs für einer Welt? Kannst du mir das einmal verraten?“
„He, Rene, für was’n Job soll’s 2000 geben?“
„Tjaa…tja. Da wirst du staunen, Kleiner, ordentlich staunen…“

Pingen lässt den Motor an und schert zeitgleich auf den verdammten Ring aus. Hinter ihm quitschen Reifen, irgendein Kack-Benz, irgendein Hempel drin.

„He, komm! Mach’s nicht so spannend!“
„Eigentlich biste noch viel zu klein für solche Geschichten. Ich hab geschworen, auf dich aufzupassen…“
„Hähä, junger Bruder und so – sehr lustig! Also erzähl ma, du Arschgesicht!“
„Tja. Also dieser feine Dr. Schmitz, dieser blöde Wichser, der ist verheiratet. Verheiratet sind solche Typen nämlich immer, is irgenswie eine fixe Idee in Wichserkreisen. Heirat is anscheinend ein Muss für die, naja.“
„Ich kapier diese Heiraterei sowieso nicht. Steht nix in der Bibel von drin, sag‘ ich mal.“
„Und nach sechs Jahren Heirat…“

„Wie, nach sechs Jahren Heirat?“
„Mein Gott, dann eben nach sechs Jahren Ehe! Ehe. Zufrieden? Also nach sechs Jahren Ehe fällt ihm auf, dass so eine Ehe ja eigentlich richtig Scheiße ist!“
„Rene, das kann man ihm doch nicht vorwerfen!“
„Und seine Frau ist nach sechs Jahren Ehe mit Dr. Wichsgesicht mit den Nerven völlig am Ende. Was ja auch nicht erstaunlich ist. Also schluckt die jetzt irgendwelche Psychopillen, die aber nicht viel helfen. Und der feine Dr. Schmitz ist es daraufhin endgültig leid. Kann die ewige Trauervisage von Frau Dr. Schmitz partout nicht mehr sehen…“

„Soll ich mich da jetzt reindenken, Rene? Oder was?“
„Nein, du sollst einfach nur zuhören. Wenn überhaupt. Und vor allem sollst du dir deine neunmalklugen Kommentare verkneifen.“
„Ich sach nix mehr. Erzähl ma weiter.“
„Also der Kerl hat die Schnauze von seiner Frau Gemahlin voll. Da läuft nichts mehr, die kostet ihn nur noch Geld und Nerven. Und rein zufällig findet unser Dr. Wichsgesicht heraus, dass die sich jetzt auch noch von ihm scheiden lassen will. Und das verletzt seinen Stolz natürlich ganz ungemein. Abgesehen davon, dass eine Scheidung richtig teuer werden könnte…“
„Und das hat er dir alles erzählt?“

„Ne, der wollte mir gar nichts erzählen. Der hat gelabert und gelabert wie Rainer Barzel und nix gesagt. Ne, dem musste ich alles aus der Nase ziehen. Auf die indirekte Tour, weist du.“
„Ha, ha!“

„Und ich glaub‘ auch nicht, dass der Drecksack wirklich Dr. Schmitz heißt.“
„Natürlich nicht, Rene! Niemand heißt Dr. Schmitz. Das ist ein Alibi, kannste deinen Arsch für verwetten!“
„So etwas nennt man Inkognito, du Leuchte…“

Sie stehen bei Rot an der Ampel. In diesem Augenblick biegt ein brauner Range Rover auf den Ring.

„Ja leck mich doch am Arsch!“ brüllt Pingen auf. „Da fährt doch dieses Wichsgesicht vorbei. Da vorne in der Kiste!“
„Worauf wartest du noch?“ fragt Marcel. „Fahr ihm nach!“

Die Ampel zeigt immer noch Rot. Aber wenn man sich immer im Leben an Regeln hält, kommt man zu gar nichts. Die Lücke ist da, der Fuß am Gaspedal. Und wer ist der Großmeister günstiger Gelegenheit? Rene Pingen! Eben. Pingen brettert los. Mal schauen, wo der feine Herr hinfährt.

„Guck genau, Marcel! Guck genau hin! Dieser Typ da vorne im Rover, dieser Typ mit der Fönfrisur, der bietet mir 2000 D-Mark dafür, seine Alte zu erledigen. Verstehst du jetzt, worum es geht?“
„Hab ich mir schon gedacht, Rene. Bin ja nicht blöde!“
„Der hat hat mir ein Photo von der gezeigt.“
„Und?“

„Zum Flachlegen!“
„2000 sind echt ein Witz, Rene. Du sollst seine Frau abmurksen und der will dir dafür 2 Mille zahlen? Das ist Verarsche.“
„Genau so sehe ich das auch. Ganz genau so seh‘ ich das auch!“
„Ein Wichser ist das !“
„Für 2000 kriegste gerade mal 200 Gramm oder so!“
„Du sagst es.“

Sie folgen der vierrädrigen Geschmacklosigkeit die Luxemburger runter. Brauchen ein Weilchen, ihre Empörung wegzuqualmen.

„Rene?“
„Was ist?“
„Du weißt, dass Gott verboten hat zu töten?“
„Hör mir mit dem Scheiß auf,  ja?“
„Schon gut, Rene, du bist der Boss.“

 

(1984)

LowTech-Terrorismus auf dem Vormarsch

Ein bedenklicher Trend: immer öfter werden lebensbejahende, aufgeschlossene Trendsetter Opfer technophober Fundamentalisten:

Kyle Russell, Journalist beim „Business Insider“, wurde am Freitag in San Francisco von einer Frau angegangen. Zunächst riss sie ihm seine Datenbrille aus dem Gesicht, dann schmiss sie das Google-Gerät auf den Boden. Display und Spracherkennung der Brille funktionierten daraufhin nicht mehr, das Gestell war verbogen, berichtet Russell.

Display und Spracherkennung am Arsch, Gestell verbogen! Mitten in Kalifornien: Verhältnisse wie in der Ukraine! Wo soll das hinführen? Darf man wieder alles kaputtmachen? Wie lange müssen Menschen wie Kyle Russell noch in Angst und Schrecken leben? Wann kommen endlich Google-Implantate auf den Markt?