Author: Halbmast

Noch eine moralische Instanz weniger!

Vor Imanuel Kant (Königsberg) empfand ich bislang allerhöchsten Respekt. Von ihm hieß es immer, er sei gewissenhaft, pünktlich, gesellig und ein guter Billardspieler gewesen. Und überhaupt ein korrekter Typ und so. Aber Pustekuchen!

Aus der Kant-Biographie von  Arsenij Gulyga:

„Bei einem Abendessen vergoß einmal ein junger Leutnant in Anwesenheit eines älteren Offiziers Rotwein auf dem Tisch und wollte vor Verlegenheit in den Boden versinken. Magister Kant, der sich mit diesem Offizier gerade über irgendeine Schlacht unterhielt, goß in aller Ruhe aus seinem Glas etwas Wein dazu und begann auf dem Tischtuch mit roten Linien Truppenbewegungen darzustellen.

Ich weiß natürlich nicht, ob das stimmt, was der Russe da schreibt. Aber wenn, dann kann ich nur sagen: HALLO? Geht’s noch? Das ist ja so etwas von No-Go, so dermaßen larissahaft! Das geht mal gar nicht! In Petersburg und Paris verdursten Clochards und der Herr Magister Kant vergießt mutwillig Rotwein im Offiziers-Kasino! Was, wenn das allgemeine Maxime würde?

Man rufe den Vierspänner – mir reicht’s!

24 frames per second

You got to mix it child, You got to fix it, but love it’s a bitch, alright…

Meine Oberschenkel bearbeiten mit unbarmherziger Dynamik die Trittbretter des Crosstrainers. Ich höre laut die Stones und lasse meine Arme dabei ventilierend grooven. Dieser Moment der Leidenschaft wirkt sich ungünstig auf mein Gleichgewicht aus. Oh, Gleichgewicht du flatterhaftes Flittchen!

Der Sturz per se ist wandellos, nicht aber sein Wie und Wo. Während ich also steuerbord vom Crosstrainer stürze, fällt mein Blick auf den Kater, der genau dort hockt, wo ich einzuschlagen drohe und der – anstatt das Weite zu suchen – die Eleganz meiner Bewegungen fasziniert verfolgt. Das ist ein Problem, denn der Kater geht wahrscheinlich tot, wenn ich auf ihn falle. Doch im Augenblick gibt es Wichtigeres.

Denn auch das Smartphone, das an meinem Kopfhörer hängt, hat gegonnen, dramatisch rasant seine Raumkoordinaten zu ändern. Es fliegt durch die Luft und es ist doch erst anderthalb Jahre alt! Ich will mir kein neues kaufen, da habe ich keinen Bock drauf. Meine linke Hand schnappt ungefragt und mambagleich nach dem Smartphone und vermeldet Luftbergung. Nun kann ich mich wieder dem Thema Kater zuwenden.

Der hockt immer noch da, wo er eben schon hockte und macht immer noch keine Anstalten zu flüchten. Mein Frau hört es nicht gerne, aber wenn es einen Katzen-IQ gäbe, dann hätte dieses Tier einen deutlich unter 90. Einen Augenblick überlege ich, ob es nicht für alle das Beste wäre, wenn…

Aber, nein. Mit dem Bein, das noch Kontakt zum Crosstrainer unterhält, stoße ich mich pantherhaft ab, ändere somit geschickt Richtung und Weite meines Fluges. In der Zwischenzeit habe ich mein Smartphone in die Hosentasche gesteckt, so dass ich jetzt mit Hilfe beider Arme mich kopfüber abrollen kann, wobei ich allerdings mit den Fersen an die gegenüber liegende Wand knalle.

Der Kater hat mittlerweile seinen Kopf gedreht und sieht wie sich aus Gründen, die er nicht versteht, das Ölgemälde, dass an besagter Wand hängt vom Haken löst und nun der Schwerkraft folgt. Ein kurzes Wort zu diesem Bild. Es ist ein abgeschmackt farbenfrohes Werk meines eigenen Pinsels, ein Frühwerk, dem man immerhin zugute halten muss, mich davon überzeugt zu haben, nie wieder noch ein Kunstwerk anzufertigen. Außerdem ist der Rahmen  – nun ja, ähm – nicht schön, aber prägnant*. Er erinnert mich immer daran, dass das Leben keine Abfolge von 24 Bildern pro Sekunde, sonder von 24 Rahmen pro Sekunde ist. Egal.

Während das Ölgemälde sich anschickt, mir den Schädel zu zertrümmern, vibriert das Smartphone in meiner Hosentasche. Ich schaue auf das Display und sehe, was ich schon geahnt habe. Es ist ein Kollege. Ich weiß, es ist dringend, die Welt geht unter, vielleicht schon heute, dass braucht er mir nicht extra zu sagen. Weshalb ich das Gespräch wegdrücke und das Ölbild auffange.

Ich fühle mich topfit, katapuliere mich aus dem Sitz in den Stand und verfüge mich in fließender Bewegung wieder auf den Crosstrainer. Bevor ich mir die Kopfhörer aufsetzte, vernehme ich die Stimme meiner Frau aus dem Nebenraum. Sie will wissen, was los ist. Es ist zu kompliziert, ihr das alles zu erklären und sage: Nichts!

 

*besser: pregnant (engl.)

Vorerst wunschlos glücklich

Minutenlang schon stalkt mich eine Frage: Was kann ein Mann eigentlich noch wollen, der schon alles hat?

Ich habe eine große Schüssel voller friedlicher Urzeitkrebse.
Ich habe eine neue Nudelmaschine.
Ich habe eine Frau, die leicht stabsichtig ist.

Was kann ich noch wollen ohne der Maßlosigkeit anheimzufallen? Was kann ich noch willentun ohne moralisch anzuecken?

Noch einen Kapputschino? Wäre das okay?

Mary hat einen Vorschlag

In Anerkennung der sittlichen Reife und der humanistischen Denkungsart meiner Leser, habe ich gestern – ohne großes Tamtam – die Kommentarfunktionen in diesem Blog liberalisiert. Registrierung und E-Mail Angaben sind fortan nicht mehr gefragt – es lebe die Meinungsfreiheit! Wen es juckt, der soll sich kratzen. Welcome!

Doch wie wurden mein Vertrauen und mein patriarchaler Großmut von den Lesern aufgenommen?

Schlecht, denkbar schlecht!

Heute morgen öffne ich frohgemut Urknall und Dingsbums und was sehe ich? Ich sehe einen Kommentar! Einen, von einer gewissen Mary! Und was kriege ich? Ich kriege spornstreichs Resthaar-Elektrizität – mir steht alles zu Berge! Und warum? Deswegen:

„You need targeted visitors for your website so why not get some for free? There is a VERY POWERFUL and POPULAR company out there who now lets you try their website traffic service for 7 days free of charge. I am so glad they opened their traffic system back up to the public! Sign up before it is too late: …“

Dazu nehme ich folgendermaßen Stellung:

Liebe Mary,

darf ich dich zunächst bitten, Beiträge in meinem Blog auf Deutsch zu formulieren? Mein Französisch ist leider ein bisschen eingerostet, weswegen ich Babelfish mit der Übersetzung deines Kommentars beauftragen musste. Herausgekommen ist nun dies:

„Sie müssen gezielt Besucher für Ihre Website , warum also nicht etwas kostenlos zu bekommen ? Es ist ein sehr starkes und beliebtes Unternehmen gibt, die jetzt können Sie ihre Website-Traffic -Service für 7 Tage kostenlos ausprobieren. Ich bin so froh, dass sie ihre Verkehrssystem eröffnet wieder an die Öffentlichkeit! Registrieren , bevor es zu spät ist :…“

Aha. Also gut, liebe Mary, ich versichere dir, dass ich mich über jeden Beitrag hier bei Urknall und Dingsbums  freue. Unter anderen auch deshalb, weil meine sogenannten Freunde, bzw. meine zukünftigen Ex-Freunde meinen Blog eher ignorieren. Schon deshalb ist mir jede Stimme lieb, auch die von einsamen, mir unbekannten Surfern. Allerdings!

Musste es denn gleich ein konstruktiver Vorschlag sein, Mary? Nichts hasse ich so sehr wie konstruktive Vorschläge! Abgesehen von sachlicher Kritik natürlich – die ist noch demütigender! Darf ich dich also höflich ersuchen, deine Beiträge zukünftig einen Tick unsachlicher, weniger wohlwollend und vielleicht  ein bisschen aufbrausender zu formulieren? Damit käme ich deutlich besser zurecht, du Brunzbratze!

Doch nun zum Inhalt deines Kommentars. Nein, Mary, ich will meine Besucher nicht „gezielt“ was auch immer. Und „umsonst“ finde ich auch Scheiße. Und ich will auch nicht „starkes und  beliebtes Unternehmen“ und schon gar nicht will ich „Website-Traffic-Service“ – auch nicht den naturgeilen aus der Ukraine! Noch weniger Wert lege ich auf „Verkehrssystem“ und „eröffnet“ und „Öffentlichkeit“! Das alles will ich nicht.

Nein, Mary, Urknall und Dingsbums ist nicht dafür geschaffen, dass hier irgendetwas optimiert wird. Hier wird nämlich halbabsichtlich und sackentspannt die hohe Kunst des Vermurksens zelebriert.

Nichts für unnütz,
dein Halbmast

 

Urzeitkrebse

Nach langem Zögern habe ich eben einen Finger in die Schale  mit den Urzeitkrebsen gesteckt (aus meiner Weinkaraffe wurden sie mittlerweile ausquartiert). Die Viehcher sind ungefähr einen halben Zentimeter groß und schwimmen ziemlich aggro im Zickzack. Sie haben mich aber nicht angegriffen. Scheinen charakterlich also okay zu sein.

In einer Woche werde ich das Experiment wiederholen. No risk, no fun!

Urknall und Bewusstsein

Es gibt Theorien, die sind von einer solchen gedanklichen Anmut, dass man sie gar nicht einer schnöden Wahrheits- oder Plausibilitätsprüfung unterziehen will. Ob sie wahr oder falsch sind, spielt keine große Rolle. Dass es wenig gibt, was für sie spricht, ebenso.  Wenn diese Theorien logisch konsistent sind, reicht das schon aus, um sie lieben zu wollen. Ein schönes Beispiel dafür ist ein Gedankengang des englischen Philosophen Collin McGinn, den ich hier kurz präsentieren möchte. (Metaphysik-Fans zur Warnung: Ihr kommt bei McGinn nicht auf eure Kosten. Wenn es den Anschein hat, dann nur, weil ich ihn hier verkürzt zitiere, bzw. weil ihr nicht feste genug nachdenkt.)

McGinn beginnt mit dem klassischen kartesianischen Problem: „Wenn Bewußtsein nicht konstitutiv räumlich ist, wie kann es dann seinen Ursprung in der räumlichen Welt haben?“

Man beachte, daß es zu diesem Problem keine Parallele in der Evolution der Lebensformen per se gibt. Diese sind zwar tatsächlich kosmische Neuheiten, aber sie transzendieren nicht wesentlich die Mechanismen räumlicher Aggregation und wir verfügen über eine gute Theorie darüber, wie die Neuheit hervorgebracht wird. Es gibt kein Raum-Problem bei der Erklärung der Entstehung von Organismen als solchen; dies Problem tritt erst auf, wenn bewußte Zustände ins Spiel kommen. Um es in Decartes‘ Vokabular auszudrücken: Wie kann sich etwas, dessen Wesen es ist, nicht-räumlich zu sein, aus etwas entwickeln, dessen Wesen es ist, räumlich zu sein? […]

Man beachte auch, daß dieses Problem keine Parallele in der Relation zwischen dem Abstrakten und dem Physikalischen hat, da das Abstrakte, wenn es auch nicht-räumlich ist, doch nicht aus dem Materiellen hervorgegangen sein soll. […]“

Soweit alles klar? Dann aufgepasst, jetzt kommt’s, Freunde! Jetzt wird es wild-schön. Festschnallen und Staunen!

An dieser Stelle könnten wir uns an den Big Bang erinnert fühlen. Jenes bemerkenswerte Ereignis kann man als ein inversives Raum-Problem stellend auffassen: Denn nach der allgemeinen Ansicht begann der Raum selbst im Moment des Big Bang zu existieren, während es vorher nichts Räumliches gab. Aber wie kann raum aus Nicht-Raum entstehen? Welche Art von ‚Explosion‘ könnte Raum ab inition schaffen? Dieses Problem lässt eine noch engere Parallele zu dem Problem des Bewußstseins erkennen, wenn wir – wie ich es als plausibel auffassen würde – annehmen, daß der Big Bang nicht der Anfang (zeitlich oder explanatorisch) aller Existenz ist. Irgendein vorangegangener, unabhängiger Zustand der Dinge muß zu jenem frühen Kataklysmus geführt haben und für diese Folge von Ereignissen muß es eine intelligible Erklärung geben – geradeso wie es eine Erklärung für die Folge geben muß, die von Materie-in-Raum zu Bewußtsein führt. Das Gehirn kehrt sozusagen um, was der Big Bang eingeleitet hat: Es macht die Hervorbringung von Raum zunichte, indem es Materie verschlingt und Bewußtsein ausspuckt. Wenn man es sehr langfristig betrachtet, hat das Universum auf diese Weise Phasen der Raum-Hervorbringung und der (lokalen) Raum-Vernichtung durchlaufen. Oder – was das letztere betrifft – es hat zumindest Operationen in bezug auf Raum gegeben,, die eine nicht-räumliche Form des Seins hervorgebracht haben. Dies legt die folgende kühne Spekultion nahe:

Der Ursprung des Bewußtseins bedient sich irgendwie jener Eigenschaften des Universums, die dem Ereignis des Big Bang vorausgegangen sind und ihn erklären. Wenn wir eine vorräumliche Realitätsebene benötigen, um den Big Bang zu erklären, dann könnte es eben diese Ebene sein, die für die Hervorbringung von Bewußtsein ausgenutzt wird. D.h. wenn man voraussetzt, daß die Überreste des Vor-Big-Bang-Universums fortgedauert haben, könnte es sein, daß diese Eigenschaften des Universums irgendwie an der Konstruktion des nicht-räumlichen Phänomens des bewußtseins beteiligt sind. Falls dem so ist, würde sich das Bewußtsein als älter denn Materie im Raum herausstellen, zumindest was sein Rohmaterial betrifft.“

Leute, sagt jetzt nichts, haltet bloß die Klappe! Ich weiß selber, dass McGinns Argumentation nicht stimmig ist. Ich weiß, dass sich jedem Physiker, der das liest die Fußnägel aufrollen und ich weiß, dass Ähnlichkeitsbeziehungen und Kausalbeziehungen zwei völlig verschiede Dinge sind. Und vieles mehr weiß ich.

Aber das kümmert mich nicht. Mir ist es Wurst, was kleinpimmelige Spielverderber zu mäkeln haben. Der Gedankengang von Mister Mcginn ist freaky und cool und irgendwo da drin – tief drin – steckt was. Was Wahres drin. Und außerdem: Der Typ nennt allen Erstes den Big Bang ein „bemerkenswertes Ereignis“! Ein BEMERKENSWERTES EREIGNIS!!! Hat man jemals ein lässigeres Understatement gelesen?

 

(Colin McGinn, Bewußtsein und Raum (S.189-190)  in: Thomas Metzinger (Hrsg.), Bewußtsein. Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie, Paderborn, München, Wien und Zürich, 1996)